Corona Diaries #2 Beethovens Kopf!

Avatar von Natascha

Beethovenjahr. Alles ganz schön still in der Stille. Als sie am 17. Dezember 2019 angefangen haben, Beethovens Jubiläum zu feiern, war es mir am 18. Dezember 2019 schon zu viel. Jetzt bekomme ich allmählich wieder Sehnsucht. Wir hören zuhause mitunter Beethovens Siebte, auch seine Sechste, einen Satz aus der Dritten, so beim Abendbrot, wenn alle in Stimmung sind. Beethoven ist der Mann der Stunde. Er befriedet, macht ruhig, beim Abendbrot, wenn alle ihren Tag wegerzählen wollen, aber nicht jeder zuhören kann. Dann kommt Beethoven in einer schlichten Youtube-Aufnahme auf die klapprige Bluetooth-Box und fährt die Gemüter runter. Hach, Beethoven. Du Guter! Aber nichts geht über Beethoven in der Carnegie Hall oder im Barbican Center, in der Alten Oper Frankfurt. Ich habe (und schreibe mit Absicht nicht: „hatte“) eigentlich vor, John Eliot Gardiners Beethoven-Zyklus im Frühsommer in Athen zu filmen. Ende Juni. Da ist eine Aufführung draußen auf dem Parthenon im Odeon des Herodes Atticus geplant, also outdoor im Amphitheater. Ist das nicht eine schöne Idee?!

Aber einiges geht doch in Sachen Beethoven. Und zwar mal nicht digital oder online, sondern ganz old school „analog“. Vor ein paar Tagen erschien Peer Meters und Rem Broos „Beethoven“-Buch beim Carlsen Verlag. Carlsen Verlag – ja: Es ist ein Comic, oder wie man vornehm sagt: eine Graphic Novel. Also, ein gezeichnetes Buch. Ein Kunstwerk ist das! Rem Broo hat die Geschichte gezeichnet. Vorn im Einband steht auch „Storyboard“, und tatsächlich sieht man einen Film vor dem geistigen Auge ablaufen, wenn man liest, schaut, Details sucht, Bilder abscant und so durch das Buch gleitet. Man liest nicht, weil der Text so präzise und prägnant konfektioniert ist, dass man ihn irgendwie simultan sehend mit dem Bild erfaßt. Rem Broo zeichnet richtig süffig: mit breitem Strich, mit Druck und Kontur. Die einzelnen Szenen sind üppig koloriert im Aquarellstil, die Bilder sind dadurch richtig schön atmosphärisch. Die Zeichnungen ohne Text sind Kunstwerke, die man sich auch aufhängen könnte. Landschaftsszenen, Details. Was mir am besten gefällt, ist, wie Rem Broo sein Augenmerk auf Licht und damit auf Farbtemperatur gelegt hat. Das ist richtig gut komponiert – mit Bedacht und Konzept. Man glaubt nicht, wie viele „Shades of warm Brown“ er erfindet, wenn er Landschaftsszenen koloriert, wie viele „Shades of Purple“ er für Wiener Nachtszenen auf seiner Palette mischen kann und wie viel Dunst und Highlighter er in Bilder pumpt, wenn der Texter Peer Meter die Geschichte in Erinnerungen in Beethovens Badezimmer etwa ausbuchstabiert.

Die Bilder sind klasse, aber die Geschichte erst! Peer Meter hat sie an einem sehr verblüffenden Detail entsponnen. Ich liebe diese Art von Storytelling: wenn aus einer Winzigkeit ein Universum entsteht. Das winzige Detail ist hier: Beethovens Kopf! Der wurde im Totenbett einfach abgeschnitten. Wirklich! Meine Lieblingsseite im Buch ist die S. 55: „Der schaut ja aus wie ein gerupftes Huhn“ tönt es aus dem Wohnhaus Beethovens, in dem sein Leichnam aufgebahrt liegt. Anscheinend hat man direkt nach Beethovens Tod nicht nur sämtliche Locken vom Kopf des Mannes geschnitten, bis der bis zur Unkenntlichkeit kahlköpfig dalag, sondern auch Unterkiefer, Gehörgang und und und rausgesägt. Und weil man den Kopf ein bisschen zu doll ausgeschlachtet hatte, haben sie ihm zur letzten Ruhe einen afrikanischen Schädel ins Totenbett gelegt. Einfach nur, damit das Skelett für den Fall der Exhumierung auch komplett ist. Krass, oder? Ist aber nicht erfunden.

„Beethoven – Unsterbliches Genie“ erzählt die Geschichte von Beethovens Tod wenige Tage nach Beethovens Tod. Peer Meter berichtet über die Umstände des Todes und vor allem, wie nur kurz danach eben diese ungeheuerliche Leichenfledderei begann. In verschiedenen, fantastisch gezeichneten Flashbacks erfährt der Leser auch, wie verlogen die Wiener Gesellschaft war, wie ätzend sich Beethoven gegenüber seinen stets wechselnden Haushälterinnen verhielt, wie soziophob und schmuddelig er in immer wieder unterschiedlichen Wohnungen in Wien hauste (Beethoven soll 80 Mal umgezogen sein), wie zickig sich die beiden Sängerinnen Caroline Unger und Henriette Sontag um ihren Beethoven-Fame stritten. Viele Anekdoten sind richtig gut recherchiert. Flashbacks und Hauptgeschichte werden schön auf verschiedenen Ebenen montiert – eben weil der Zeichner die Flashbacks durch verschiedene „Weißabgleiche“ charakterisiert, kommen die unterschiedlichen Handlungsstränge auch in der linearen Buchform gar nicht durcheinander. Peer Meter hat noch eine Rahmengeschichte dazu erfunden, die als lange Exposition die Spannung steigert. Außerdem kann sich Rem Broo da richtig schön austoben zeichnerisch. Wer alles schon weiß über Beethoven: das hier verblüfft. Ja, macht sehr viel Freude, das Buch.

Peer Meter, Rem Broo: Beethoven. Unsterbliches Genie. Carlsen, 2020. Ich habe das Buch online gekauft, aber der Buchhändler vor Ort bestellt es sicherlich gerne. Es ist seit dem 12. März im Handel.


2 Antworten

  1. michael.funken

    😉

  2. Sophia Heg

    Super geschrieben, tolle Auffassungsgabe und wirklich irrwitzig Ausgabe! Hoffentlich geht noch mehr in diesem Jahr „in Sachen Beethoven“!

Schreibe eine Antwort zu Sophia HegAntwort abbrechen

Entdecke mehr von cultchoc

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen