Hier fliegt viel herum. Pünktchen – Glühwürmchen? Eine weiße Taube flattert schon VOR dem Vorspiel durch mein Sichtfeld. Ich sitze im Opernhaus auf dem Grünen Hügel, warte auf Parsifal. Draußen schüttet es. Wer hätte gedacht, dass ich je frieren würde in diesem Haus. In einem schwarzen Baumwoll-Säckchen hinter meiner linken Schulter steckt die schwarze AR-Brille. Kurz touchiere ich das Knie meiner Hintersitzerin – sie nimmt‘s gelassen. Ich werde ihr Knie noch zwei Mal im Laufe des Abends antippen. Aus Versehen – wenn ich mir die AR-Brille aus dem Säckchen hole.
Aber nun schwebt es erst mal, wie es nur schweben kann: Schwäne, Granaten, Autobatterien, Pfeile, Blut, Fliegen, Motten und Kalaschnikows. Auch weiße Plastiktüten – und Bäume, Bäume, Bäume. Alles fliegt um mich herum. Und wenn ich auf den Boden schaue, auf meine Schuhe blicke, sehe ich einen Fuchs auf einem Granitfelsen sitzen. Hä? Bin ich bei „Zelda – Tears of the Kingdom“? Nintendo Switch lässt grüssen.
Ich trage eine AR-Brille. Augmented Reality. Sie erweitert meine Wirklichkeit, indem sie von meinem Platz aus in Reihe 29 einen grafischen Raum aufspannt bis hin zur Bühne. Und den füllt sie mit Sachen, die in 3D um mich herumschwirren. Totenköpfe, Lilien, Erze, immer wieder Erze. Graue Gesteinsbrocken aus erstarrter Lava mit blauen Steinchen drin. Nahezu alle Gegenstände, die der Video Creator und Designer Joshua Higgason für diese Parsifal-Inszenierung entwickelt hat, drehen sich um die eigene Achse. Wirbeln, schweben, kommen auf mich zu. Immersiv ist hier das Stichwort.
Diese Brille ist auf meine Dioptrinwerte angepasst, schon am Vormittag haben sich zwei junge Frauen mit mir und meinen Augen und dem Nasenflügel der Brille beschäftigt. Es gibt extra 6 kleine Silikonpuffer, 1-Cent-große Nupsis, von denen ich zwei pro Aufzug auf den Nasenflügel kleben könnte, falls die Brille drückte. M-hm. Ganz schöner Aufwand.
Die Brille hat das Format einer Sonnenbrille, ist bisschen schwer und sehr warm. Über ein Kabel ist sie mit einem Interface unter meinem Sitz verbunden. Frau Merkel hatte übrigens bei der Premiere extra eine Assistentin, die ihr die Brille aufsetzte. Im Zweiten Aufzug fällt meine Brille mal für eine Dreiviertelstunde aus, was ein Glück ist – dazu komme ich gleich noch – aber sonst sehe ich über dem konventionellen physischen Bühnengeschehen, das Jay Scheib sich für diesen neuen Parsifal ausgedacht hat, ständig Animationen. Ständig ist hier das Stichwort. Über 400 Cue-Punkte muss der AR-Inspizient Kenneth Pettitt punktgenau auf die 4 Stunden Musik setzen, etwa alle 35 Sekunden – damit ich passend zur Partitur die Schwebesachen sehen kann. So überrascht ich anfangs war, ja, nach 15 Minuten ist diese Ästhetik für mich, die sehr gerne grafisch hochwertige Konsolenspiele spielt, komplett auserzählt.
Es ist schon toll, diese Technik hier in einem Opernhaus aus dem 19. Jahrhundert, das nicht einmal eine Klimaanlage hat, zu erleben – keine Frage: nur allein die Umsetzung ist zu unterkomplex noch. Aus verschiedenen Gründen: alles das, was da um mich herumschwebt, sind allenfalls dekorative Requisiten, die physisch auch auf der Bühne stehen könnten. Welchen narrativen Mehrwert haben sie? Welche narrative Ebene will Jay Scheib überhaupt durch die AR-Brille eröffnen? Vieles ist einfach nur dekorativ, redundant und sehr plakativ – Requisiten digital in 3D-animiert. Dabei könnte man den AR-Raum für ein eigenständiges Narrativ nutzen.Aber kommen wir zum 2. Aufzug und dem Moment, als meine Brille ausfällt. FOMO befällt mich: die berühmte „Fear of missing out“. Verpasse ich jetzt etwas?
Klingsors Zaubergarten, Kundry und Parsifal. Elina Garanca baut aus ihrer Stimme und ihrem Körper eine ganz neue Kundry-Figur. Aus dieser dysfunktionalen Energie einer Verführerin, die zugleich Mutter und Geliebte ist, schafft sie eine echte Bindung zu Parsifal . Die beiden sind einander verfallen. Und Sie gehen wirklich eine neue Beziehung ein. Denn Kundry steht Seit an Seit mit Parsifal. Dieser Parsifal ist von Jay Scheib sehr unterspannt inszeniert, was Andreas Schager zwar stimmlich gut kompensiert – aber diese Kundry, und nur diese Kundry, lässt ihn zu einer ernsten Bühnenfigur werden. Bühne, Kostüme, AR – alles arbeitet subtil gegen Parsifal. Aber Kundrys Gesang macht ihn groß. Auch weil die beiden Stimmen von Elina Garanca und Andreas Schager so perfekt in Resonanz sind.
Dank der Panne steige ich in Klingsors Zaubergarten also um vom digitalen Raum in das analoge Geschehen. Und bin froh. AR macht einsam, denke ich. Die AR-Bilder laufen mitunter auch auf den Hinterköpfen der Menschen, die vor mir sitzen. Die sind jetzt eben nur noch Projektionsfläche und nicht mehr mit mir Teil einer einzigen Zufalls-Gemeinschaft, die dieses grandiose Live-Erlebnis einer Wagner-Oper in Bayreuth zusammen teilen möchte. Der virtuelle Space fühlt sich unangenehm künstlich an. Was mich am meisten irritiert, ist aber die ästhetische Unterkomplexität.
Alles was man sieht, wirkt so altbacken. Die Messlatte diesbezüglich hat nämlich der omnipräsente Mark Zuckerberg mit seiner Firma META sehr hochgelegt. Seit 2019 stellt META auf seiner Plattform „META Spark Studio“ jedem Content Creator kostenlose Tools und Tutorials zur Entwicklung eigener AR Filter zur Verfügung. Jede und jeder kann das also lernen und machen – für Facebook und Instagram.
Gut – noch nicht für ein Opernhaus. Da hat die Werkstatt Bayreuth also noch einiges zu tun.
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